Viel Lärm – wenig Substanz

Politik nach dem Lärm-Prinzip hat derzeit Hochkonjunktur. Wer mehr Lärm macht, wird gehört. Probleme werden bewirtschaftet statt zielgerichtet gelöst. Das dient zwar der individuellen Profilierung, ist aber ein kurzsichtiges Konzept.

Der Gastkommentar von Daniel Eckmann in der NZZ vom 2. Dezember 2020 ist lesens- und bedenkenswert.

Politik ist ein von Zustimmung abhängiges Produkt. Das verleitet dazu, von der Zustimmung aus zu denken und zu handeln, statt vom Produkt aus. Finde heraus, was die Leute wollen, versprich es ihnen und meide alles andere, insbesondere die Realität. Gegenwartswünsche als Perspektive und Wohlfühlversprechen als Programm. Die meisten Schweizer Städte werden heute so regiert – und daran wird sich so schnell nichts ändern. Denn die Erfüllung hipper Ansprüche der einen ist zur Funktion der Wiederwahl der anderen geworden. Die Frage ist, ob das auf Dauer gutgehen kann.

Fordern statt leisten

Je schwächer die Politik, desto mehr Einfluss haben ausserparlamentarische Gruppen. Anders als die Auns oder die GSoA in den 1980er und 1990er Jahren, sind es heute nicht mehr klar strukturierte Organisationen, sondern Bewegungen, die sich informell bilden, meist zu singulären Themen, angeheizt mit Schlagworten und dann und wann missbraucht von gewaltbereiten Aussenseitern, denen jede Demo als Trittbrett recht ist. Dagegensein als medial belohnte Form des Dabeiseins. Die Gilets Jaunes in Frankreich oder hierzulande illegales Zelten auf dem Bundesplatz sind nur zwei Beispiele von vielen. Und schon treten die Rätinnen und Räte vor die Türen des Palais fédéral, sehen sich die Demonstrationen an, gehen wieder hinein und setzen dort auf die Agenda, was draussen gerade skandiert wird. Politisieren nach dem Lärmprinzip.

Dem sagt man volksnah. Und so kommt die Papizeit schneller ans Ziel als die AHV-Reform, nur: Ist der Schweiz mit sich selbst erfüllender Politik gedient, wie sie gerade in Mode ist? Müssen die Erfolgsfaktoren für unseren Wohlstand und unsere sozialen Errungenschaften nicht stets aufs Neue erarbeitet werden? Müssen Ansprüche nicht mit Leistungen erfüllt werden statt bloss mit Forderungen? Beginnt just das schiefzulaufen?

Demokratie als Nullsummenspiel

Wenn der Sieg das oberste politische Ziel ist, geht der Mut zu politischer Grösse verloren. Die Denklogik des Gewinnens und Verlierens ist zu eng, um Kompromisse zu finden, die der Sache dienen und nicht dem Prestige. Kompromisse geben nicht den einen recht und den anderen unrecht. Sie schaffen auch nicht eine verwässerte, sondern eine neue Position. Erst der einsichtige Verzicht auf Maximalforderungen erlaubt dem Fortschritt das Fortschreiten. Kompromissfähig zu sein, heisst nicht, generell einzuknicken. Kompromisse betreffen in sich geschlossene Sachfragen und die Bereitschaft, ein Gleichgewicht zu finden. Jede Partei kommt ohne Verrat an den eigenen Werten ein Stück weit entgegen und beharrt ein anderes Stück weit. Das war lange Zeit ein Erfolgsrezept eidgenössischer Politik. Bis immer mehr Parteistrategen fanden, gemeinsame Lösungen seien wahltaktisch brotlos. Wer punkten will, muss auffallen. Und sollte für einmal kein Weg an einem Kompromiss vorbeiführen, verlangen alle mit viel Gefechtslärm so viele sachfremde Konzessionen, bis jede Partei die ungeliebte Vorlage den eigenen Reihen als Sieg verkaufen kann. Solche Pakete ohne einheitliche Materie haben einen hohen Preis. Wenn jedem Nachteil am einen Ort ein Vorteil an einem anderen Ort beigepackt wird, obwohl beides nicht zusammenhängt, wird die Demokratie zum Nullsummenspiel.

Leeres Cockpit, volles Trittbrett

Wenn die Politik nicht vom Problemlösungsbedarf her gestaltet wird, sondern vom Profilierungsbedarf, verschiebt sich das gewünschte Ende vom Gemeinwohl zum Selbstzweck. Das Verlockende daran ist, dass man sich ersparen kann, was das unpopuläre Lösen hartnäckiger Probleme so mit sich bringt. Man schaut vielmehr vorwurfsvoll zu, wie alles schlimmer wird, und kaum packt endlich doch noch jemand an (faute de mieux meistens der Bundesrat), erschallt der Chor der Besserwisser. Es geht nicht um Lösungen, sondern nur darum, vor möglichst vielen Kameras auf Sündenböcke zu zeigen. Und diese sind stets im anderen Lager. Dem Guten steht jeweils nichts weniger als das Böse gegenüber – im Singular. Das verhärtet alles und jedes. Diskussionen sind nicht mehr möglich, es gibt nur noch Streit. Das Resultat: Probleme werden zum Sauerstoff für Profilierungen – und deshalb dürfen sie nicht ausgehen. Mehr geben die Cockpits zurzeit nicht her. Dafür sind die Trittbretter voll. Und so tanzt alles um sich selbst.

Wenn die Politik nicht vom Problemlösungsbedarf her gestaltet wird, sondern vom Profilierungsbedarf, verschiebt sich das gewünschte Ende vom Gemeinwohl zum Selbstzweck.

Daniel Eckmann

Sicher, Politik ist ein von Zustimmung abhängiges Produkt. Fragt sich allerdings, ob Zustimmung ein Selbstzweck ist oder eine Folge. Selbstreferenzielle Systeme entscheiden von innen her, was aussen relevant zu sein hat. Sie pflücken aus dem Sortiment offener Fragen heraus, was gerade Stimmen bringt. Ob das demokratisch ist? Oder gehört zur Demokratie nicht vielmehr Mut zur Offenheit? Schwierige Reformen oder andere unbeliebte Entscheide ihrer Dringlichkeit zum Trotz aus Angst vor dem Volk einfach zu verhindern, ist kein generationenverträgliches Programm. Ob der Souverän wirklich so simpel tickt, wie man in gewissen Zentralen denkt? Oder verträgt eine der reifsten Demokratien der Welt die Wirklichkeit auch ohne Medizin, deren Nebenwirkungen gefährlicher sind als das Leiden selber? Irgendwo muss es ja beginnen, mit mehr Mut zum Mut.